Alltagsmärchen

Sie hob den Deckel der schwarzen Tonne und warf ihre Mülltüte hinein. Sie schloss den Deckel und ging wieder in ihre Wohnung. Manchmal waren schon einige Müllsäcke in der Tonne, manchmal war die Tonne leer. Ebenso verhielt es sich mit der blauen Papiertonne und den gelben Säcken – irgendwann war die Tonne leer bzw. hing ein neuer leerer Sack im Halter. Es war fantastisch. Es war bequem.

Eines Tages hob sie den Deckel und Mülltüten sprangen ihr ins Auge. Die Tonne war voll. Mit der zweiten schwarzen Tonne daneben war es nicht anders. Sie wartete einen Tag – die Tonnen waren immer noch voll. Sie wartete noch einen Tag – die Tonnen waren immer noch voll. Sie Stopfte ihren Müll hinein – die Tonnen wurden nicht leerer. Nun musste sie feststellen, dass sie von den kleinen Müllwichteln verlassen wurde. Sie konnte sich nicht erklären, was hinter dem Zauber entleerter Mülltonnen steckt.

Manchmal, wenn sie das Haus verließ, wunderte sie sich, warum überall entlang der Straße volle Mülltonnen am Straßenrand oder neben den Haustüren standen. Sie konnte sich nicht erklären, wie ihre Mülltonnen noch vor dem Aufstehen durch den Hausflur hinaus auf die Straße und nachmittags wieder zurück in den Hinterhof gelangten. Ah, ja gut, an den Tonnen waren Räder dran. Aber wie machen das die prall gefüllten gelben Säcke? Sackhüpfen?

All diese merkwürdigen Ereignisse kann nur verstehen, wer das Zauberbuch gelesen (oder zumindest überflogen) hat. Das große geheimnisvolle Zauberbuch – nein, eigentlich ist es ein kleines Zauberheftchen, denn Müll wegzaubern ist gar nicht sooo kompliziert, wie sie annahm, und die mysteriösen Zauberformeln sind kurz und prägnant gehalten – dieses Zauberbuch also trägt den Titel „Abfallfibel“.

Ja, da dämmerte es ihr! „Abfallfibel“ – das stand auf diesem dünnen Heftchen, welches monatelang auf einer der untersten Stufen der Treppe lag. Genau auf der Stufe, auf der sich auch ihre Post befand. Noch so ein Mysterium: Wie gelangte die Post vom Boden des Hausflurs auf die Treppe? Es gab im Haus nämlich keine Briefkästen; die Post flatterte einfach unsortiert durch einen Spalt in der Haustür in den Hausflur. Irgendjemand – vermutlich die Müllwichtel, das ahnte sie nun – steckten ihre Post dann in dieses hässliche Heftchen hinein. Sie entnahm die Post und ließ die Abfallfibel liegen. Langsam überkam sie das Gefühl, dass dies nicht richtig gewesen sein könnte.

Sie wohnte noch nicht lange in dem Haus. Es war schwierig für sie, einen monatlichen Turnus in dem Verschwinden prall gefüllter gelber Säcke sowie des Papiers zu erkennen. Für alle, die auch eine Regelmäßigkeit von „mittwochs alle 14 Tage“ nicht erfassen können, gibt es das Zauberbuch „Abfallfibel“ zum Nachlesen abfalltechnischer Gesetzmäßigkeiten.

Vor einigen Tagen hatte sie eine merkwürdige Botschaft erhalten. Als sie nach Hause kam, klebte ein gelber Zettel mit einer Aufschrift an ihrer Tür. Sie erinnerte „Mülltonnen bitte Dienstag Abend [Datum] rausstellen. Es ist sonst niemand da. Danke“ oder so etwas in der Art. Nun, da sie vor der randvollen Mülltonne stand mit ihrer Mülltüte in der Hand, überlegte sie, ob diese seltsame Botschaft irgendetwas mit dem feinen seltsamen Geruch zu tun haben könnte, der gerade bei sommerlichen Temperaturen durch den Hinterhof zog. Nein! An so einen Quatsch glaubte sie nicht. Das war sicher nur Zufall.

Sie überlegte, was sie nun tun sollte mit ihrer Mülltüte in der Hand. Sie überlegte, ob sie lesen sollte, was auf dem gelben Sack gedruckt stand. Aber zum Lesen war jetzt keine Zeit, jetzt musste gehandelt werden. Sie dachte darüber nach, ob es vielleicht sinnvoll gewesen wäre, leere Konservendosen, Joghurtbecher und ähnliches womöglich sogar ausgespült in den gelben Sack zu tun statt in den Restmüll zu stopfen. Das Volumen an Abfall mit dem berühmt berüchtigten Punkt aus zwei Pfeilen war nicht durch eine Tonne beschränkt.

Aber allein der Gedanke an Mülltrennung löste in ihr Ekel, Panik und das Gefühl totaler Überforderung aus. Dieser Aufwand war einfach zu groß, als dass sie ihn ohne lebensbedrohliches Erschöpfungssyndrom hätte leisten können. Sie beschloss, einige Plastikfolien in die Papiertonne zu werfen, musste aber feststellen, dass davon die Restmülltonnen nicht leerer wurden. Vielmehr wurde die Papiertonne voller. Sie überlegte, ob sie vielleicht diverse Pizza- und Verpackungskartons hätte auseinander falten oder zerreißen sollen. Aber auch diese Vorstellung kam ihr obstrus und viel zu anstrengend vor.

Sie beschloss, auf die Rückkehr der Müllwichtel zu warten, die die Macht des Zauberbuches hatten und die Zaubersprüche besser beherrschten als sie. Sie legte ihre Mülltüte vertrauensvoll auf die bereits vorhandenen Mülltüten und presste mit dem Deckel alles fest zusammen. Es gelang nicht ganz. Der Deckel schloss nicht mehr vollständig. Aber sie war ihre Mülltüte los. Damit war IHR Problem gelöst. Ihre Nachbarin, deren Zimmerfenster sich direkt neben den Tonnen befindet, bekam nun täglich Besuch von dem feinen seltsamen Geruch, der sich unter die sommerlich warme Luft mischte.

Und wenn die Müllwichtel 14 Tage später wieder kein Erbarmen zeigten und die Ratten sie noch nicht aufgefressen haben, dann wartet und türmt sie noch heute.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Projektes
„Deine Stimme gegen nachbarschaftliche Gewalt“.

Autor dieses Beitrags: Anna